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Titel
Die Schule und ihre Problemkinder. (A)Normalität im 19. und 20. Jahrhundert, eine historisch-systematische Analyse


Autor(en)
Deluigi, Tamara
Erschienen
Bad Heilbrunn 2021: Julius Klinkhardt Verlag
Anzahl Seiten
258 S.
Preis
€ 45,00
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Andreas Kuhn, Jugendwerk Landau, Jugendwerk St. Josef

Seit den Anfängen moderner Pädagogik lässt sich Un/Gleichheit als grundlegende pädagogische Problemstellung begreifen. Ausgehend von der Konstitutionsphase moderner Pädagogik bis insbesondere in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde Un/Gleichheit als vor- und außerpädagogisch bestimmte Problemstellung begriffen, die es mit Blick auf die Teilhabe an Pädagogik wiederum pädagogisch zu bearbeiten galt. Mitte des 20. Jahrhunderts erfuhr die Frage nach dem Zusammenhang sozialer Ungleichheit und Bildungsbenachteiligung besondere (und anhaltende) Aufmerksamkeit und spätestens seit den 1990er-Jahren rückt die Frage nach der pädagogischen Konstitution und Hervorbringung von Un/Gleichheit in den Fokus des Interesses. In diesem Kontext ist die Studie von Tamara Deluigi zu verorten, die als Dissertation an der Universität Bern vorgelegt wurde und die pädagogische Hervorbringung von Un/Gleichheit in der Debatte des 19. und 20. Jahrhunderts untersucht. Dabei fokussiert die Arbeit auf die Konstitution von (A)Normalität im schulbezogenen Diskurs in der Schweiz zwischen 1827 und 1914 und reiht sich so in das in den letzten Jahren allgemeinpädagogisch, aber auch in der pädagogischen Historiographie zunehmende Interesse an Fragen von der Un/Gleichheit ein.1

Mit der Vergewisserung bezüglich ihres Gegenstandes hebt denn auch Kapitel I der Arbeit an. Einleitend verortet sich Deluigi hier in der aktuellen schulbezogenen öffentlichen und (populär-)wissenschaftlichen Debatte um Normalität und Abweichung sowie deren insbesondere allgemeinpädagogischer Rekonstruktion und begründet so ihr historisches Interesse am Zusammenhang von (A)Normalität und Differenz. Die zentrale Frage: wie „durch […] Normalisierungsprozesse und -annahmen […] sowohl Differenz wie auch Differenzvorstellungen“ (S. 14) entstehen, bearbeitet Deluigi anschließend an Elmar Anhalt, „komplexitätstheoretisch“ (S. 17): „Die komplexitätstheoretische Perspektive bietet […] eine Möglichkeit, die im Material vorhandene Perspektivität und Dynamik der Kategorisierungs- und Klassifizierungsfrage sichtbar zu machen und somit eine denkbare Analyse- und Vergleichsmöglichkeit zur heutigen Situation zu schaffen.“ (S. 17)

Als Quellenkorpus dienen 16 pädagogische Lehrbücher von 12 verschiedenen Autoren sowie „die Schweizerische Lehrerzeitung und ihre fünf ‚Vorgängerinnen‘“ (S. 25) aus dem Zeitraum 1827–1914. Der auf die gesamte deutschsprachige Schweiz gelegte Fokus wird dabei über die bisher unzureichende interregionale Betrachtung innerhalb der historischen Bildungsforschung in der Schweiz begründet. Der Untersuchungszeitraum wird von der „beginnenden Institutionalisierung der staatlich-seminaristischen Lehrer- und Lehrerinnenausbildung“ (S. 20) her bestimmt und findet sein Ende in der zunehmenden Ausdifferenzierung sowie eigenständigen Institutionalisierung und Professionalisierung der Sonder- und Heilpädagogik zu Beginn des 20. Jahrhunderts.

Deluigi entwickelt so das, was sie im Anschluss an Bellmann und Ehrenspeck2 als historisch-systematischen Zugang und hierbei als Darstellung und Darstellungsreflexion begreift (S. 28). Sie legt den systematischen Zugang zu den Quellen als solchen offen, statt ihn scheinbar aus den Quellen abzuleiten, und verortet dabei nicht nur ihren Gegenstand historisch, sondern verweist auf die Historizität ihrer Systematik selbst, indem sie ihre Fragestellung als eine Frage unserer Zeit ausweist.

In Kapitel II findet sich eine systematische Auswertung der Quellen in zwei getrennten Unterkapiteln für die pädagogischen Lehrbücher und die Lehrerzeitungen, die mit einer Einordnung in den historischen Kontext anhebt. So werden die zunehmende Industrialisierung, Säkularisierungsbestrebungen, föderale Strukturen zwischen kantonaler Zuständigkeit und bundesstaatlichen Regelungen sowie die zunehmende Professionalisierung des Lehrer:innenberufs im Sinne der Institutionalisierung der Lehrer:innenausbildung sowie der zunehmenden berufsständischen Organisation als Kontexte identifiziert, in denen sich relevante Strukturen und Akteure finden, die den Normalisierungsdiskurs entweder mit hervorbringen oder denen innerhalb des Diskurses, mit Blick auf die Konstitution von (A)Normalität, eine maßgebliche Bedeutung zugeschrieben wird. Die pädagogischen Lehrbücher „ermöglichen einen Einblick in das Professionswissen der angehenden Lehrpersonen“ (S. 52), so Deluigi, und werden mit Blick auf die für die diskursive Hervorbringung von (A)Normalität als relevant erachteten Akteure (Lehrpersonen, Familiäres Umfeld, Kirche/Pfarrer, Medizin/Ärzte, Staat), die Vorstellungen des idealen oder auch normalen Schulkindes und die Methoden und Mittel seiner Erziehung sowie die konkrete Thematisierung von Normalität und Abweichung hin analysiert und ausgewertet.

Während die Lehrbücher aus der kompletten Zeitspanne (1827–1914) ohne eine weitere zeitliche Differenzierung in der Auswertung als ein eigenständiger Datensatz behandelt werden, rekonstruiert Deluigi ausgehend von einer themenbezogenen Kategorienbildung in der Auswertung der Zeitschriften verschiedene Themenkonjunkturen die in die Unterscheidung von vier Phasen der Thematisierung und Hervorbringung von (A)Normalität im Kontext Schule münden. Zu Beginn (1829–1841) steht die Verständigung der Rahmenbedingungen von Schule sowie in diesem Zusammenhang die Unterscheidung erwünschten und unerwünschten Verhaltens entlang des Duals gut / böse sowie besser / schlechter im Vordergrund. Anschließend daran (1842–1880) findet sich eine zunehmende Differenzierung der Beschreibung unerwünschten Verhaltens mit Fokus auf körperliche und geistige Einschränkungen und Abweichungen, hier tritt die Unterscheidung normal / anormal sowie gesund / krank zu den vorher genannten hinzu und die Medizin gewinnt im Diskurs an Bedeutung. Im Weiteren (1881–1897) werden differenziertere Kategorisierungssysteme entwickelt, die eine Vielzahl der Abstufungen zwischen normal und anormal vorsehen und im Kontext statistischer Erhebungen genutzt werden, um die Schüler:innenschaft in der Schweiz zu beschreiben. In diesem Zusammenhang findet ebenfalls eine zunehmende Ausdifferenzierung des Volksschul- und Anstaltssystems durch die Einrichtung separater Klassen und Anstalten für bestimmte Gruppen von Kindern sowie eine zunehmende Professionalisierung mit Blick auf die Unterstützung und Förderung als anormal kategorisierter Kinder statt. In der letzten von ihr unterschiedenen Phase findet Deluigi dann vermehrt Versuche und Methoden die Eigenschaften, Einwicklungen und Abweichungen von Kindern zu messen und diese für Schule nutzbar zu machen. Psychologisches, medizinisches und wissenschaftliches Wissen erlangen in diesem Zusammenhang zunehmend an Bedeutung und aus der Debatte um die Ausdifferenzierung der Volksschulwesens sowie der Professionalisierung der Förderung als anormal kategorisierter Kinder entwickelt sich eine institutionelle und professionelle Ausdifferenzierung der Heil- und Sonderpädagogik.

Ausgehend von einer zusammenfassenden Darstellung der Rekonstruktion des Normalisierungsdiskurses in den Lehrbüchern und den Lehrerzeitungen sowohl mit Blick auf die relevanten Akteure des Diskurses als auch auf die konkrete Entwicklung der Vorstellungen von Normalität und Abweichung diskutiert Deluigi in Kapitel III abschließend die Ergebnisse ihrer Analyse vergleichend zwischen den beiden Quellentypen. Insgesamt kommt Deluigi zu dem Schluss, dass sich der Diskurs über Differenzierung, Kategorisierung und Klassifizierung im Bereich Schule nicht einheitlich darstellt. Vielmehr variieren die Positionen insbesondere entlang der unterschiedlichen Akteure, deren Interessen und Rollen sowie entlang der unterschiedlichen Funktion der Quellen. „Die […] beteiligten Akteure […] sind sich also von Beginn der modernen Schule an über […] die Möglichkeit, Grenzen vom Normalen zum Abweichenden zu ziehen, uneinig. So wird am Material sichtbar, dass die Schule als ein multiperspektivisch geprägtes System eingestuft werden muss, in dem Differenzierungsvorstellungen nicht ausschließlich über ihren eigenen Ausbildungskontext oder berufsinterne Perspektiven gebildet und implementiert werden“ (S. 246).

Deluigi zeichnet in ihrer Studie ein materialreich belegtes, facettenreiches Bild einer zunehmenden Differenzierung der Kategorisierung der Schüler:innen im genannten Untersuchungszeitraum, das einhergeht mit einer zunehmenden Professionalisierung des Lehrer:innenberufs, einer Etablierung von Medizin und Psychologie als Referenzwissenschaften und -praxen, der staatlichen Gestaltung von Rahmenbedingungen sowie Erwartungen und Interessen seitens der Wirtschaft. Gerade die Darstellung der Differenz der Positionen und deren Entwicklung im Diskurs macht dabei die Arbeit besonders spannend und lesenswert.

Gleichzeitig offenbart die Arbeit auch einige Schwächen, die sich, mit Deluigi anschließend an Bellmann und Ehrenspeck 2, dem Zusammenhang der Darstellung und Darstellungsreflexion zuordnen lassen. So bleibt in der Darstellung weitgehend unklar, inwiefern in die Entwicklung der themenbezogenen Kategorien, die Deluigi in Kapitel II erläutert, einerseits systematische Überlegungen und Entscheidungen einfließen, die gewissermaßen an die Quellen herangetragen werden, oder andererseits die Systematik der Kategorien der Auswertung der Quellen folgt.

Ebenfalls unklar bleibt, wie ein originärer pädagogischer Zugang zur Frage der Normalisierung aussehen könnte, nachdem sich Deluigi gegenüber „fachfremden“ Zugängen zur Frage der Normalisierung vorsichtig abgrenzt (S. 33ff.). Mit Blick auf den gewählten komplexitätstheoretischen Zugang ist das nicht notwendig als Schwäche zu werten, da so der Blick für die Einflüsse weiterer Bereiche und Akteur:innen (Psychologie, Medizin, Wirtschaft, Politik) auf die Gestaltung von Schule offen bleibt – systematisch lässt sich doch gleichwohl fragen, wie sich die Einflussfelder denn sinnvoll abgrenzen lassen, wenn nicht näher bestimmt wird, was zum Beispiel pädagogische Praktiken und Konzepte der Normalisierung von politischen, medizinischen oder auch psychologischen unterscheidet und wie diese wiederum zusammenhängen.

Überdies haben Fragen der Konstitution von Normalität und Abweichung oder auch des Verhältnisses von Allgemeinem und Besonderem in der pädagogischen Differenzdebatte – vor allem entlang der Differenzlinien Geschlecht, Ethnie, Behinderung – sowie bezogen auf einzelne Teildisziplinen, insbesondere die Sonderpädagogik, eine reiche Tradition3, an die Deluigi jedoch nur vereinzelt anschließt (systematisch insbesondere unter I.1 und I.5, eher sporadisch unter III.2.2). Bezüglich der Entwicklung der Systematik in Kapitel I wirkt die Auswahl der referierten Arbeiten eklektisch und wird nicht näher begründet, gleichzeitig bleibt die Abgrenzung gegenüber „forschungsrelevante[n] Normalitätskonzepte[n]“ (S. 33) rein negativ bestimmt, statt sie zur argumentativen Profilierung des eigenen Zugangs zu nutzen. Auch bei der Diskussion der Ergebnisse wäre, vor allem in Kapitel III, eine weitergehende kritische Verortung in der (sonder-)pädagogischen und gerade auch der historiographischen Debatte um Normalität und Abweichung angezeigt gewesen, um in diesem Zusammenhang Reichweite und Grenzen der eigenen Überlegungen durch eine stärkere Relationierung zu weiteren thematisch verwandten Arbeiten und Diskursen darzulegen und so – im Sinne von Bellmann und Ehrenspeck – die vorliegende Arbeit in der historischen und systematischen Bestimmtheit ihrer Darstellung selbst kritisch auszuweisen.

Abschließend ist der Arbeit von Deluigi in jedem Falle zu wünschen, dass sie viele sowohl sonder- als auch allgemeinpädagogische Leser:innen findet und so dazu beiträgt, nicht nur den weiteren Diskurs um (A)Normalität und Un/Gleichheit anzuregen und fortzuführen, sondern auch die diskursive Trennung von Pädagogik und Sonderpädagogik – von der sie selbst noch zeugt – in einer pädagogischen Verständigung aufzuheben.

Anmerkungen:
1 Vgl. z.B. Sabine Reh / Patrick Bühler / Michèle Hofmann / Vera Moser (Hrsg.), Schülerauslese, schulische Beurteilung und Schülertests 1880–1980, Bad Heilbrunn 2021.
2 Johannes Bellmann / Yvonne Ehrenspeck, historisch/systematisch. Anmerkungen zur Methodendiskussion in der pädagogischen Historiographie, in: Zeitschrift für Pädagogik 52 (2006), S. 245-264.
3 Vgl. z.B. Heinz-Elmar Tenorth, Bildsamkeit und Behinderung. Anspruch, Wirklichkeit und Selbstdestruktion einer Idee, in: Lutz Raphael / Heinz-Elmar Tenorth (Hrsg.), Ideen als Gestaltungskraft im Europa der Neuzeit. Beiträge für eine erneuerte Geistesgeschichte. München 2006, S. 497–520. Oder auch: Vera Moser, Die Geschichte der Behindertenpädagogik, in: dies. (Hrsg.), Enzyklopädie Erziehungswissenschaft Online. Fachgebiet Sonderpädagogik, Weinheim 2009, https://www.beltz.de/fachmedien/erziehungswissenschaft/enzyklopaedie_erziehungswissenschaft_online_eeo/artikel/9986-die-geschichte-der-behindertenpaedagogik.html (17.06.2022).

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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